Lebensgeschichte
110 Jahre Victor Moslehner
Am 7. September 1902 erblickte mein Vater in Königsberg das Licht der Welt. Obwohl aus angesehener und wohl situierter Familie stammend (seine Mutter brachte als Rittergutsbesitzertochter ein ansehnliches Vermögen mit), lebten die Eltern doch äußerst sparsam.
Dies mißfiel ihm in seiner Kindheit sehr, so daß er sich später, als er endlich eigenes Geld verdiente, stets überaus elegant kleidete und auch anderen gegenüber immer großzügig war. Bis ins hohe Alter fand er Genugtuung darin, guten Freunden, später den Enkeln mit Großherzigkeit zu begegnen und ihnen mit schönen Geschenken Freude zu machen.
Obwohl Stadtkind, faszinierte ihn das Leben auf dem Rittergut Adlig Wertheim im Landkreis Gumbinnen bei Sodehnen, wo er in den großen Sommerferien oft bei Großvater und Cousins zu Gast war.
Der großzügige Lebensstil dort beeindruckte ihn, wenngleich er auch berichtete, daß die jungen Gutsbesitzertöchter sehr wohl mitarbeiten mußten. Zum Beispiel gab man die neugeborenen Kälbchen bis zum Entwöhnen vom Muttertier in die Obhut der Töchter – vielleicht, weil diese liebevoller mit den jungen Tieren umgingen als die Knechte.
Man muß wohl an vielen Stellen das Bild vom "preußischen Junker" korrigieren.
Möglich, daß in dieser Zeit bereits die innige Liebe zur Natur und ihrer Schönheit geboren wurde, die meinen Vater ein Leben lang nicht losließ. Seine Mutter Olga Pluquet beschäftigte sich mit Porzellanmalerei, wobei sie ihre Werke gern mit Blumen und Gräsern schmückte. Aus der Familie ging ein bekannter Grafiker und Maler Hans Pluquet hervor, so daß man annehmen kann, daß die künstlerische Begabung, die meinen Vater auszeichnete, aus diesem Hugenotten - Erbe hervorging.
Das Abitur bestand mein Vater 1922 an der Hindenburg-Oberrealschule.
Danach arbeitete er ein halbes Jahr lang als Volontär in der Union Gießerei und studierte dann zwei Semester Maschinenbau an der technischen Hochschule Danzig - Langfuhr. Nach einundeinhalb Jahren Arbeit bei der Firma Todtenhöfer erhielt er den Gesellenbrief im Maschinenbau mit der Note „gut“.
1925 entschloß er sich zum Studium der Zahnmedizin an der Albertus-Universität und bestand 1928 das Physikum mit „gut“.
1930 im elften Semester meldete er sich zum Staatsexamen, aber es sollte anders kommen als geplant; bei einem Wochenendurlaub an der so geliebten Kurischen Nehrung schlief er in der brütend heißen Sonne ein und holte sich eine schwere Meningitis. Nur seiner starken Natur war es zu verdanken, daß er überlebte. Viele Tage lag er mit 41 Grad Fieber im Krankenhaus. Danach mußte er mühsam wieder lesen, schreiben und Bilder erkennen lernen. An eine Wiederaufnahme des Studiums war zu diesem Zeitpunkt gar nicht zu denken.
So erlernte er im Fotoatelier Wohnsdorf 1931 bis 1934 das Fotografenhandwerk.
Später arbeitete er im technischen Büro der Waggonfabrik Steinfurt bis 1937, danach als Flugzeugmonteur bei der Luftwaffe, Luftgau Kommando 1, Abteilung Flugzeugführerschule Königsberg, Dessau und Seerappen bis 1939, wobei er zuletzt eine Montageabteilung leitete.
In den nachfolgenden Jahren bis Juni 1942 arbeitete er als technischer Angestellter im Hoch- und Tiefbaufach beim Luftgau Kommando 1, sowohl auf den verschiedensten Flugplätzen und Großbaustellen wie Königsberg - Seerappen, Gutenfeld, Dommelken, als auch in der Entwurfs- und Planungsabteilung des Luftwaffenkommandos in Königsberg Marauenhof.
In diese Zeit fiel auch das Abendstudium im Hochbau an der Staatlichen Hoch- und Tiefbauschule in Königsberg.
Wann immer ihm seine Arbeit Zeit ließ, ging mein Vater auf die „Jagd", um mit der Kamera die Schönheit der herrlichen ostpreußischen Landschaft einzufangen. Die Kurische Nehrung und Samländische Bernsteinküste waren seine liebsten Jagdgründe. Geduldig wartete er die langen Abendschatten von Strandhafer und Huflattich ab, belauschte die Natur, wo sie am eindrucksvollsten war, ging hinaus an den Strand, wenn nach einem Gewitter gewaltige Brecher an Land schlugen und die imposanten Wolken Strand und Wasser abwechselnd in Hell oder Dunkel tauchten. Er hatte die Begabung, die Landschaft mit den Augen eines Malers zu sehen, und tatsächlich entstanden von seiner Hand einige bemerkenswerte Ölgemälde, aber auch Aquarelle.
In dieser sorgenfreien Zeit lernte mein Vater auf einem Faschingsball meine Mutter kennen, Meta Endruhn, die als Tochter einer Kriegerwitwe eine beachtenswerte Stellung als Filialleiterin der Barmer Ersatzkasse innehatte.
Meine Mutter besaß weniger den „Künstlerblick“ meines Vaters, aber sie genoß das Atmosphärische einer schönen Landschaft.
Sie war stets gutgelaunt, liebevoll, humorvoll und witzig. Überall beliebt und wohlgelitten, mußte sie oft die Patzer ausbügeln, die mein Vater mit seinem schwierigen Temperament gelegentlich zu begehen pflegte. Und wo er in seinem künstlerischen Enthusiasmus überschwenglich wurde, blieb sie mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit.
Am 16.10.1937 heirateten meine Eltern, am 8.7.1941 wurde ich geboren.
Der Krieg durchkreuzte im Juni 1942 alle hoffnungsvollen Zukunftspläne der jungen Familie. Im Juni 1942 wurde mein Vater als Soldat der Luftwaffe dem Fliegerhorst Neukuren (Samland) überstellt, und nach sechswöchiger Grundausbildung wurde er zum Leiter der dortigen Luftwaffen-Bildstelle befördert.
Nach verschiedenen Einsätzen als Luftbildfachmann bei den Luftwaffenbildstellen in Bromberg, Königsberg, Lesczia (Polen), Hildesheim, Berlin und Kaiserslautern kam er als Panzergrenadier und 1. MG Schütze in den Endkampfeinsatz an die Westfront und verlor während nächtlicher Kämpfe gegen die Amerikaner in Hatten bei Weißenburg/Elsaß den linken Arm.
Er wurde in einen unterirdischen Bunker gelegt, den man nur auf einem Zickzackpfad erreichen konnte, da alles vermint war. Ein Unteroffizier bot allen Verwundeten, die gehen konnten, an, auf einem Feldweg einen im Walde versteckten Sanitätswagen (Sanka) aufzusuchen, der sie nach Landau (Oberpfalz) bringen würde.
Als einziger entschloß sich mein Vater dazu. Er wurde auf einem Zickzackpfad entlanggeführt und gewarnt, daß der Feldweg regelmäßig mit Granaten beschossen wurde. Er wartete einen Beschuß ab und erreichte dann eilend den Wald. Der Fahrer des Sanka wartete noch zwei Stunden auf einen weiteren Verwundeten, dann fuhren sie die Nacht durch bis Bergzabern. Dort war in der Schule ein Notlazarett eingerichtet.
Von Bergzabern ging es drei Tage und drei Nächte lang (vom 10. bis 13. Januar 1945) bis Marienbad in der Tschechoslowakei. Der Verwundetentransport - sieben Waggons mit Liegen - fuhr ausschließlich nachts. Tagsüber hielt er irgendwo im Wald. Laut Aussage meines Vaters hungerten die Soldaten weder im Einsatz noch als Verwundete. Das sollte in US Gefangenschaft bald anders werden.
Ende April wurde meinem Vater das Soldbuch abgenommen und der Befehl ausgehändigt, sich nach Bayern zu begeben. Mit zwei oder drei weiteren Verwundeten wanderte mein Vater durch den Böhmerwald nach Westen. Mitleidige Bauern gaben ihnen zu essen und Übernachtung. Am 27./28. April wurden die Invaliden auf einer bewachten Schneise von den Amerikanern gefangen genommen. In der Nähe von Weiden (Oberpfalz) kamen sie in ein Gefangenenlager mit mehreren 1000 Kriegsgefangenen hinter Stacheldraht mit Wachtürmen. Nach ca. 3 Tagen wurden die Männer in LKWs in das Hungerlager Bad Kreuznach/Langenlonsheim gebracht. Wachtürme, Zielfernrohre, Scheinwerfer, die die ganze Nacht das Lager beleuchteten, ermöglichten es den Amerikanern, jeden Flüchtenden sofort zu erschließen. Vom 28.4. bis 4. August 1945 verbrachte mein Vater in diesem Lager, und der 184 große Mann magerte von 168 auf 102 Pfund ab.
"Er konnte nicht allein laufen, sondern mußte gestützt werden. Es bereitet mir heute noch Grauen, an seinen Anblick zu denken ", sagte kürzlich die Tochter des Bauernhofbesitzers, bei denen wir einquartiert waren.
Meine Mutter hatte zunächst in Königsberg bleiben wollen, da man nicht an einen Einmarsch der Russen glaubte. Aber ein guter Freund, Harry Voss, warnte sie. Es werde in Kürze in Königsberg nichts mehr zu essen geben, die Stadt werde verelenden.
Als die Stadt in Flammen aufging, woran ich mich noch gut erinnere – wir wohnten etwas abseits am Oberteich - muß der Entschluß, Königsberg zu verlassen, sehr schnell getroffen worden sein.
Wie durch ein Wunder erhielten meine Mutter, Großmutter und ich 1944 noch einen Platz in einem der überfüllten Züge und landeten nach langer Fahrt in Westerwald, wo mein Onkel eine Mühle besaß.
Dort traf im August 1945 mein Vater mit uns zusammen.
Den Sieg und Einmarsch der Amerikaner erlebte ich als Drei- bzw. Vierjährige zuerst als Luftangriff. Erst ein tiefes Grollen am Horizont, dann kleine Kreuze am hohen Himmel, dann fielen wie schwarze Tränen die Bomben vom Himmel.
Da der Westerwald jedoch dünn besiedelt war, erlebten wir nie schwere Explosionen in ummittelbarer Nähe wie in Königsberg.
Als dann die ersten US Amerikaner in die Häuser kamen, fiel mir auf, daß manche den gesamten Unterarm voll Uhren trugen. Jagdgewehre und Kameras wurden eingeheimst.
Der ukrainische Mühlenarbeiter meines Onkels aber hatte schon vorgebeugt. Er verfrachtete die Kamera, die meine Mutter neben etwas Tischwäsche, Tafelsilber, ca. 300 ostpreußischen Negativen und meinem Teddybären aus Königsberg gerettet hatte, in einen rostigen Marmeladeneimer, den er vorher noch mit einem Hammer zerbeult hatte, und warf das Ganze unter die Laderampe der Mühle. So entging sie der Plünderung und ermöglichte später meinem Vater, eine kleine Existenz aufzubauen
Es waren unglaublich ärmliche Zustände, unter denen wir lebten.
Die Kartoffeln wurden durch Hilfe bei der Ernte erarbeitet, aber es fehlte an allem.
Nach der Währungsreform 1948 eröffnete mein Vater als selbstständig arbeitender Berufsfotograf ein Fotoatelier. Die Küche diente unter anderem als Dunkelkammer. Mit dem Vertrieb der begehrten Heimatfotos, (eines davon wurden 1950 auf der Photokina in Köln prämiert,) die er bis 30x40 selbst vergrößerte und entwickelte, mit Paßfoto - Aktionen, Karnevalsbildern und Aufnahmen anläßlich von Familienfeiern, hielt er uns mühsam über Wasser. Die Schwerbeschädigten Rente betrug damals 160 DM.
In dieser Zeit entstanden schöne Fotos der Westerwald Landschaft, die jedoch nicht zu vergleichen sind mit den grandiosen Landschaftsfotos Ostpreußens.
1959 gelang es endlich, in Frankfurt bei Voigt + Haeffner eine Anstellung zu erhalten. Später wechselte er zum Gerling Konzern, wo er bis zu seiner Pensionierung beschäftigt blieb. Als ich 1959 kurz vor dem Abitur stand, erreichte mein Vater es nach vielen vergeblichen Eingaben an Ämter endlich, eine Wohnung für unsere Familie zu finden, so daß ich in Frankfurt mein Studium beginnen konnte. Das Geld für eine Studentenbude in Frankfurt hätte die Familie nicht aufbringen können.
1971 verließ meine liebe Mutter uns auf immer. Stets hatte sie aufopfernd meinem Vater die linke Hand ersetzt. Es ist schwer vorstellbar, was ein Mensch, der in dieser Weise Handlanger spielt, leisten muß.
1977 heiratete man Vater die ebenso geduldige, selbstlose Victoria Ortwein, die meinen 1972 geborenen Kindern die fehlende Oma ersetzte, so gut sie konnte. Als sie 1985 verstarb, lebte mein Vater noch drei Jahre alleine in seiner Wohnung, dann aber mußte er - auch wegen der Hüftgelenkesarthrose, die vielleicht auf Verwundungen durch Granatsplitter zurückzuführen war, in ein Altersheim. Dort galt er als "Aushängeschild" für Besucher, denn er blieb bis zu seinem Tode im 89. Lebensjahr geistig beweglich und interessiert. Noch ca. ein Jahr bevor er starb sagte er zu mir - obgleich im Rollstuhl sitzend - "Ich genieße jeden Tag meines Lebens".
Bis zuletzt nahm er am politischen Geschehen Anteil und hatte seine eigene Meinung: "Deutschland ist zur Kloake geworden", äußerte er einmal bitter.
Das nahm ihm aber nicht die Freude an den täglichen Besuchen durch seine vier Enkel und den Sonntag - Nachmittagen bei uns. Stets erzählte er Interessantes und Wissenswertes, hatte er doch umfangreiche Kenntnisse in Geographie, Archäologie, Kunst und Geschichte. Ein jüngerer Freund äußerte einmal anläßlich einer Festlichkeit: "Deinem Vater höre ich am liebsten zu. Das ist viel anregender als das Geschwätz mancher jüngerer".
Viele Jahrzehnte waren die historischen Fotos meines Vaters nicht mehr zu erwerben, da er ca. 1959 sein Heimlabor aufgab.
Heute sind sie wieder erhältlich, und einige der schönsten Motive hat mein Mann mit viel Liebe und Akribie aufgearbeitet und ins Internet gestellt.
Brigitte Bean-Keiffenheim geb. Moslehner